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»Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung der
Vierziger-Siebzigerjahre.«
PROF. DR. MANFRED KAPPELER
Vortrag vom 27.05.2014 in Esslingen, Baden-Württhemberg, Bundesrepublik
Deutschland
ANFANG DES ZITATS DIESES VORTRAGS.
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Prof. Dr. Manfred Kappeler
Vortrag im Rahmen der Ethik-Vorlesung an der
Hochschule Esslingen (Fakultät Soziale Arbeit) am 27.5.2014
Anvertraut und ausgeliefert
Statt Hilfe und Unterstützung erfuhren sie
Unrecht und Leid – Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung der
Vierziger-Siebzigerjahre.
Zunächst eine Vorbemerkung zu den Grundlagen meines
Vortrags:
■ Berufserfahrung als junger Sozialpädagoge in der Heimerziehung in den Jahren
1960 – 1968
■ Supervisor von pädagogischen Fachkräften in Heimen und sozialpädagogischen
Wohngemeinschaften
■ Lehrtätigkeit in Ausbildungs- und Studiengängen (Fachschulen,
Fachhochschulen, Universitäten)
■ Beteiligung an der Kritik der Heimerziehung Ende der Sechzigerjahre
(Heimkampagne) und an der Entwicklung von Alternativen
■ Wissenschaftliche und publizistische Arbeiten zur Heimerziehung (1.
Veröffentlichung 1964 in der Fachzeitschrift „Unsere Jugend“ – jüngste
Veröffentlichung in der Zeitschrift „Widersprüche“ im März 2014 und in der TAZ
vom 3.3.2014)
■ Sachverständiger im Petitionsausschuss und im Familienausschuss des
Bundestages
■ Mitglied im Fachbeirat des AFET (Bundesarbeitsgemeinschaft für erzieherische
Hilfen) 2004 – 2012
■ Mitglied im Fachbeirat der Berliner Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige
Heimkinder (West und Ost)
■ Moderation der Berliner Gruppe ehemaliger Heimkinder bis Juli 2012
■ Unterstützung der Initiative ehemaliger Heimkinder für ihre Rehabilitation
und Entschädigung seit 2005.
Mit der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 wurde auch die Arbeitsgemeinschaft
für Jugendhilfe und Jugendpflege (AGJJ – heute AGJ) als Dachverband der
Jugendhilfe gegründet. Gründungsmitglieder waren alle großen öffentlichen und
freien Träger der Jugendhilfe. In der von Franz Josef Strauß, dem damaligen
Leiter des Referats Jugendhilfe im Bayrischen Innenministerium,
unterschriebenen Gründungsurkunde heißt es: „Durch die Arbeitsgemeinschaft soll
die Tätigkeit der Behörden, der Verbände und Vereinigungen zusammengefasst und
für die Jugendwohlfahrt fruchtbar gemacht werden. Es sollen damit alle Kräfte,
die in echter Verantwortung dem Wohl und der Förderung unserer Jugend dienen,
nach den Grundrechten, die im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert sind, sich
in wirksamer Weise für dieses Ziel frei entfalten können“. Aber trotz der
Bindung an das GG und obwohl der Schutz der Menschenwürde und der
Persönlichkeitsrechte durch die Grundrechte in der Verfassung seit der Gründung
der Bundesrepublik Deutschland ohne Einschränkungen auch für die Säuglinge,
Kleinkinder, Schulkinder und Jugendlichen galt die in Heimen leben mussten. Für
den Schutz diese Kinder und Jugendlichen, die die Fürsorge und Geborgenheit
einer Familie entbehren mussten, hatte der Staat eine besondere Verpflichtung::
das staatliche Wächteramt nach Art. 6 GG, dessen Ausübung die wichtigste
Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe hätte sein müssen. Dennoch wurden sie in
den Heimen der Jugendhilfe (damals Jugendfürsorge) wie bis 1945
weiterhin zu Ausgelieferten, die keine Chance hatten, sich gegen die ihnen
zugefügte Erniedrigung, Unterdrückung und Ausbeutung zu wehren. Es gab keine
Instanz, keine Person die ihnen zugehört oder gar geglaubt hätte.
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Nicht erst aus dem historischen Abstand von heute aus gesehen ist klar, dass
die Jugendhilfe ihre Verpflichtung und Selbstverpflichtung auf die Grundrechte
der Verfassung, auf Menschenwürde und Menschenrechte, wie sie in dem
Gründungsdokument der AGJJ aus dem Jahr 1949 formuliert wurde, in der Alltagspraxis
der Heimerziehung während der ersten drei Jahrzehnte der Bundesrepublik nicht
eingelöst hat.
Die mit den zentralen Grundlagen eines demokratischen und sozialen
Rechtsstaates in krassem Widerspruch stehenden Zustände in der Heimerziehung
waren der Fachöffentlichkeit und der Kinder- und Jugendpolitik zu jedem
Zeitpunkt der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte bekannt. Es gab auch zu
jedem Zeitpunkt einzelne Einrichtungen und Modellprojekte, die zeigen konnten,
dass eine die Würde und die Rechte von Kindern/Jugendlichen achtende, ihre
individuelle Entwicklung fördernde Erziehungspraxis in Heimen möglich war. Aber
die unselige „Tradition“ der Fürsorgeerziehung als Zwangserziehung, die durch
die NS-Jugendfürsorge noch eine Zuspitzung erfahren hatte,
weltanschaulich-ideologische Barrieren und fehlender politischer Wille
verhinderten über dreißig Jahre die flächendeckende Umsetzung von Alternativen
und führten dazu, dass ca. 800 000 Mädchen und Jungen, ein erheblicher Teil von
ihnen auch in Baden-Württemberg, in Heimen leben mussten, die zum Typus der Totalen
Institutionen (Goffman 1967) gehörten.
Erziehungsheime für Jugendliche
Lange bevor diese soziologische Kategorie für auf Zwang beruhende und ihre
„Regeln“ mit Gewalt gegen die in ihr „untergebrachten“ Menschen durchsetzende
Systeme entwickelt wurde und zu einem festen Begriff in den
Gesellschaftswissenschaften werden konnte, hatten Kritiker der Heimerziehung im
Nachkriegsdeutschland genau beschrieben, was eine Totale Institution ist und
was sie den ihr Ausgelieferten antut.
Elisabeth Bamberger, die in den ersten Jahren nach Krieg und Faschismus das
Jugendamt in München leitete, forderte schon 1948 die Abschaffung der
Fürsorgeerziehung und die Streichung des unbestimmten Rechtsbegriffs Verwahrlosung
aus dem Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG). Die Praxis der Fürsorgeerziehung hielt
sie für pädagogisch kontraproduktiv und politisch mit einer demokratischen
Gesellschaftsordnung nicht vereinbar. Sie kritisierte auch die bürokratische
„seelenlose Aktenführung“ und Berichterstattung über Kinder, Jugendliche und
ihre Familien in Jugendämtern und Heimen.. In dem Standardwerk „Handbuch der
Heimerziehung“ wurde 1955 der „Zwangscharakter“ der Fürsorgeerziehung scharf
kritisiert: „Sie erfordert eine rationale Durchgestaltung der Erziehung. Die
Methode herrscht. Die Ordnung des Zusammenlebens erstrebt die erhöhte
Brauchbarkeit des Zöglings. Das Erzieher-Zöglings-Verhältnis ist autoritär.
Lehrer, Meister und Erzieher fordern als Vertreter objektiver Ansprüche Gehorsam.
Deshalb gilt die gehorsame Unterordnung unter den Anspruch der Ordnung als
Erziehungserfolg. Die menschliche Zuordnung dient den Ordnungs-, Lehr- und
Arbeitsansprüchen. Unerbittlich hart werden Ordnungs- und Arbeitsgewöhnung
organisiert. Die Dressur überwiegt das Bedürfnis, Einsicht zu wecken. Die
Entschlossenheit der Macht, die das Ordnungssystem schützt, lässt überall den
Strafcharakter noch durchschimmern. Die eindeutige Ausrichtung auf ein
arbeitshartes Leben macht die Anstalt klar, einfach und durchsichtig. Der
Apparat garantiert die Ordnung, die Leitung ordnet die Arbeit an, überwacht sie
und bricht den Widerstand mit Gewalt. Drill, blinder Gehorsam und die
Entpersönlichung des Verkehrs werden auf die Spitze getrieben. Der
Anstaltsapparat mit seinem pädagogisch unvorgebildeten Aufseherstab bildet den
äußeren Rahmen des versachlichten Lebens. Es wird unentwegt gearbeitet, um die
Kraft der anderen Triebe zu schwächen. Die Arbeit richtet sich gegen
körperliche Verweichlichung. Schwere körperliche Arbeit wird bevorzugt. Die
Ausbildung in spezialisierter Arbeit von Lehr- und Anlernberufen wird als
seltene Vergünstigung und als Arbeitsantrieb benutzt.“
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Entgegen der Forderung der ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch
Heimerziehung (RTH) wurde diese „Arbeit“ von der Mehrheit der
Institutionenvertreter am RTH nicht als nach dem Grundgesetz verbotene Zwangsarbeit
anerkannt, obwohl die im Abschlussbericht des Gremiums dargestellten Fakten und
alle bekannten Forschungsergebnisse die Bewertung als Zwangsarbeit
rechtfertigen würden.. Diese Nichtanerkennung ist einer der Gründe für die
Verweigerung einer angemessenen finanziellen Entschädigung und eine der
Hauptursachen für die große Unzufriedenheit vieler ehemaliger Heimkinder mit
den „Empfehlungen“ des RTH, die auf der Basis des Bundestagsbeschlusses vom
Juli 2011 gegenwärtig durch den Fonds Heimerziehung und die Anlauf-
und Beratungsstellen der Bundesländer umgesetzt werden.
Der Reformpädagoge und Mitbegründer der Gilde Soziale Arbeit Professor
Hanns Eyferth charakterisierte schon 1950 die Verhältnisse in den
Erziehungsheimen für Jugendliche folgendermaßen: „Sie richten sich auf eine
Erziehung des durch Gehorsam erzwungenen vorschriftsmäßigen Verhaltens. Hier
wirken sowohl ältere traditionelle Erziehungsauffassungen von der
selbstverständlichen Gehorsamspflicht, wie konfessionelle Vorstellungen und
schließlich militärische Vorbilder. Dabei haben wir aber nicht Aufseher,
sondern Erzieher vor uns“.
1970 veröffentlichte der in Sachen Erziehung renommierte Klett-Verlag
(Stuttgart) eine empirische Studie zu drei Fürsorgeerziehungsheimen für
männliche Jugendliche in Baden-Württemberg: einem staatlichen, einem
katholischen und einem evangelischen. Die Befunde seiner Untersuchung, so der
Autor Herrman Wenzel, seien lediglich eine Bestätigung seit langem bekannter
Tatbestände. Je mehr Untersuchungen gleiche Missstände und Mängel aufzeigten,
desto gültiger und dringender werde das Postulat, in der Erziehungshilfe neue
Wege zu gehen. Der Misserfolg der Heimerziehung liege weitgehend im Versagen
der Heime und Behörden begründet, das nicht mit fehlenden finanziellen Mitteln
in den öffentlichen Haushalten entschuldigt werden könne. Wenzel zitiert die
scharfe Kritik einer Delegation der britischen Regierung an der Praxis der
Heimerziehung in Deutschland aus dem Jahre 1947 und vergleicht diese Kritik mit
seinen Untersuchungsergebnissen. Sein Resümee: „Inzwischen sind mehr als zwei
Jahrzehnte verflossen; die Kritik der britischen Delegation hat aber nichts an
ihrer Aktualität eingebüßt“.
1971 führte Professor Klaus Mollenhauer, einer der bedeutendsten
Sozialpädagogen der „alten“ Bundesrepublik, eine empirische Untersuchung in
sechs Erziehungsheimen durch. Ich zitiere das Ergebnis dieser Studie: „Eine
Erziehung, die an den spezifischen Erziehungsbedürfnissen der Kinder und
Jugendlichen orientiert wäre, konnte in keinem der untersuchten Heime
beobachtet werden. Die ermittelten Zielvorstellungen und die beobachteten ihnen
zugeordneten Methoden sind zugeschnitten auf abstrakte Normen, Einstellungs-
und Verhaltensmuster, ohne dass deren Gültigkeit problematisiert würde, weder
generell, noch in Bezug auf die Population auf die sie gemünzt sind.
In diesem institutionellen und personellen Organisationszusammenhang werden die
Kinder und Jugendlichen als Störfaktoren definiert. Wenn Anpassung an die
Erfordernisse der Organisation somit de facto als der Erziehungszweck des
Heimes ausgemacht werden kann, so entspricht dem, dass eine im eigentlichen
Sinne pädagogische Konzeption entweder gar nicht oder nur in unzulänglichen
Ansätzen vorhanden ist“.
Kinderheime
Die Situation in den Heimen für schulpflichtige Kinder beschreibt Prof. Hanns
Eyferth 1950 in seinem Buch „Gefährdete Jugend“: In diesen Heimen müssen die
Kinder die ganze Hausreinigung, die grobe Küchenarbeit, das Holzhauen, die
Botengänge und den größten Teil der Arbeit in den Gärten und in der heimeigenen
Landwirtschaft bewältigen. Durch die Arbeit der Kinder wurden Personalkosten
eingespart. Die Kinderarbeit beurteilte Eyferth als eine
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Gefährdung ihrer schulischen Bildung. Sie ließ den Kindern auch keine Zeit für
selbstbestimmtes Spielen, dessen große Bedeutung für die emotionale und
intellektuelle Entwicklung von Kindern auch schon 1950 zu den gesicherten
Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und der Erziehungswissenschaft
gehörte.
Es kann heute nicht mehr bestritten werden, dass die Kinder mit der ihnen
abgezwungenen Arbeit die Binnenstrukturen der Heime aufrechterhalten mussten,
in die sie durch die Jugendämter eingewiesen wurden. Staatliche und kirchliche
Träger der Jugendhilfe betrieben also in großem Umfang verbotene
Kinderarbeit. Diese gesetzwidrige Ausbeutung der Kinder ist eine der
Hauptursachen für die den Heimkindern vorenthaltene schulische und berufliche
Bildung. Ein erheblicher Teil von ihnen wurde ohne Volksschul- bzw.
Hauptschulabschluss aus der Heimerziehung entlassen. Nach einer Untersuchung
des Heimreformers Martin Bonhoeffer besuchten 1973 nur 1% der in Heimen
lebenden Kinder und Jugendlichen eine weiterführende Schule. Dass sehr viele
ehemalige Heimkinder heute in Altersarmut leben müssen und auf Grundsicherung
bzw. ALG II angewiesen sind, ist darauf zurückzuführen. Wie die Zwangsarbeit
von Jugendlichen ist auch die verbotene Kinderarbeit einer der Gründe für die
Forderung der ehemaligen Heimkinder am RTH nach einer finanziellen
Entschädigung in Höhe von anrechnungsfreien 300 Euro mtl. gewesen, die
bekanntlich von der Mehrheit der Institutionenvertreter am RTH (Bund, Länder,
Kirchen) abgelehnt wurde.
Die einzige finanzielle Leistung aus dem Fonds Heimerziehung mit Bezug auf die
während der Unterbringung in Heimen geleisteten Arbeit, ist die sog.
Rentenersatz- bzw. Rentenausgleichszahlung in Höhe von 300 Euro für jeden
Monat, für den vom Heimträger keine Beiträge an die Rentenversicherung
abgeführt wurden. Das gilt aber nur für Jugendliche ab dem 14. Geburtstag, die
nicht mehr dem Verbot der Kinderarbeit unterlagen. Für die den Kindern
abgezwungene Arbeit gibt es keinen Cent. Ein Beispiel: In einer großen
diakonischen Einrichtung mussten die Kinder ab dem 10. Lebensjahr, nach dem
Besuch der Heimschule am Vormittag, nachmittags an jedem Werktag vier Stunden
in der Landwirtschaft der Anstalt arbeiten. Die selbe Arbeit mussten sie auch nach
dem 14. Geburtstag als Jugendliche verrichten. Ein mir bekannter Ehemaliger,
der mit siebzehn aus dieser Anstalt entlassen wurde, kann für die drei Jahre,
die er als Jugendlicher in diesem Heim zur Arbeit gezwungen wurde, Geld aus dem
Fonds bekommen. Für die vier Jahre verbotener Kinderarbeit in diesem Heim
bekommt er nichts. Ein anderer Ehemaliger, der schon als Sechsjähriger in der
heimeigenen Landwirtschaft eines kirchlichen Heimes arbeiten musste, dann als
Vierzehnjähriger in eine Handwerkslehre „mit Kost und Logis“ entlassen wurde,
bekommt für die acht Jahre verbotener Kinderarbeit keinen Cent aus dem Fonds.
Obwohl er ein begabtes Kind war, durfte er nur die „Hilfsschule“ besuchen, aber
auch nur dann, wenn es die jahreszeitlich schwankenden „Bedürfnisse“ der
Landwirtschaft des Heimes zuließen.
Diese vollständige Nichtanerkennung der erzwungenen Kinderarbeit in den Heimen
durch den RTH, den Bundestag und die Bund-Länder-Kirchen-Vereinbarung zur
Errichtung des Fonds Heimerziehung hat neues schweres Unrecht gegenüber
ehemaligen Heimkindern geschaffen, das eine Quelle großer Enttäuschung und
Unzufriedenheit ist.
Die Entschädigungsfrage
In den 40er bis 70er Jahren haben Hunderttausende Kinder und Jugendliche durch
die ihnen in den Heimen der Jugendhilfe der damaligen Bundesrepublik
abgezwungene Arbeit in der Haus- und Landwirtschaft der Heime selbst, in
Eigenbetrieben der Heimträger und als an Fremdfirmen Ausgeliehene mehrstellige
Milliardenbeträge erwirtschaftet. Mit diesem Geld wurden Jahr für Jahr die
Budgets der Jugendhilfe entlastet und damit zuletzt der Steuerzahler. Der RTH
hätte diesen Sachverhalt mit einer wirtschaftswisssenschaftlichen Expertise
aufklären können und damit eine Grundlage für eine politisch zu vertretene und
der Öffentlichkeit zu vermittelnde angemessene finanzielle Entschädigung
ehemaliger
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Heimkinder bekommen. Aber obwohl von den ehemaligen Heimkindern am RTH die
Anerkennung der verbotenen Kinderarbeit und der Zwangsarbeit von Jugendlichen
vom ersten bis zum letzten Tag der Arbeit des RTH eingefordert wurde, obwohl
die wirtschaftliche Bedeutung dieser Arbeit von ihnen immer wieder betont wurde
und obwohl sie den direkten Zusammenhang zwischen der erzwungenen Arbeit und
der ihnen vorenthaltenen Bildung immer wieder dargelegt haben, wurde diese
Expertise von der Leitung des RTH nicht in Auftrag gegeben und dem Bundestag
empfohlen, die diesbezüglichen Forderungen der ehemaligen Heimkinder
zurückzuweisen. Der Versuch von mir und anderen Sachverständigen, in der die Plenumsentscheidung
vorbereitenden Sitzung des Familienausschusses diese folgenreiche
Fehlentscheidung zu korrigieren, scheiterte an der Weigerung der Mehrheit der
Abgeordneten des Bundestages, die „Empfehlungen“ des RTH noch einmal daraufhin
zu überprüfen, ob sie, wie es den ehemaligen Heimkindern am Beginn dieses
Prozesses in Aussicht gestellt worden ist, wirklich einen angemessenen Beitrag
zu ihrer Rehabilitation und Entschädigung leisten und für den sozialen Frieden
in dieser Gesellschaft förderlich sind.
Säuglings- und Kleinkinderheime
Obwohl für viele ehemalige Heimkinder ihre sog. Heimkarriere (ein schreckliches
und zynisches Wort, weil mit Karriere eigentlich eine individuelle
Erfolgsgeschichte gemeint ist) in den Säuglings- und Kleinkinderheimen begann,
spielten diese Heime in der „Aufarbeitung“ am RTH und in der öffentlichen
Debatte kaum eine Rolle. Das liegt unter anderem daran, dass die Erfahrungen
der ersten drei bis vier Lebensjahre bei den meisten Menschen im Gedächtnis
nicht gespeichert werden. In den autobiografischen Berichten ehemaliger
Heimkinder die von Geburt an in Heimen leben mussten, finden sich daher kaum
Hinweise auf die Praxis der Pflege und Erziehung von Säuglingen und
Kleinkindern in diesen Heimen. Allerdings sind die Auswirkungen der sog.
Massenpflege international schon seit den Dreißigerjahren und in der
Bundesrepublik verstärkt in den Fünfzigerjahren umfassend erforscht worden und
unter dem Stichwort Hospitalismusschäden nicht nur unter Fachleuten
seither bekannt.
In der internationalen Fachliteratur werden seit langem die depravierenden
Langzeitfolgen der bis in die Siebzigerjahre üblichen Massenpflege in
Säuglings-mund Kleinkinderheimen genau beschrieben. Ihre Bedeutung für die
Entstehung von Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) ist durch die
Psychotraumatologie belegt. Die Forschungsergebnisse zum Deprivationssyndrom
zeigen, dass Heim- bzw. Klinikaufenthalte von Säuglingen schon nach einer Dauer
von wenigen Monaten schwere Traumatisierungen mit lebenslangen Folgen bewirken
können.
Der AGJJ-Fachausschuss Erziehung im frühen Kindesalter befasste sich
1956 mit der Situation von Säuglingen und Kleinkindern in Heimen. In seinem
Bericht werden die Bedingungen der Massenpflege - „Der ganze Umfang des Mangels
von dem das Heimkind betroffen wird“ – detailliert beschrieben. Auch die
Auswirkungen dieser Mangelsituation auf die kleinen Kinder werden klar und
eindringlich dargestellt: „Kinder aus solchen Heimen bleiben in ihrer
körperlichen und geistigen Entwicklung weit zurück, sodass sie nicht selten wie
Schwachsinnige wirken. (...) Nicht nur in der äußeren Entwicklung nimmt es (das
kleine Kind, M.K.) Schaden, es entbehrt entscheidende, die Person des Menschen
prägende Erfahrungen. Die Auswirkungen dieser menschlichen Verkümmerung, zum
Beispiel Kontaktmangel, Misstrauen, vermindertes Selbstbewusstsein,
Abwehrreaktion, reichen tief und weit in das spätere Leben hinein. Wir wissen
heute, dass die Gesamthaltung zum Leben von diesen ersten Erfahrungen abhängt“.
Der Ausschuss kam zu dem Fazit: „Aus solchen Erkenntnissen ergibt sich
zwingend, dass das Problem der Heimerziehung der Säuglinge und kleinen Kinder
neu gesehen werden muss und nach neuartigen, besseren Lösungen verlangt“. Der
Ausschuss forderte die Ersetzung der Säuglings- und Kleinkinderheime durch
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Kleinstheime, Mutter-Kind-Einrichtungen, Ausbau des Pflegekinderwesens, einen
Personalschlüssel von zwei ausgebildeten Fachkräften für fünf Kinder und eine
weitreichende Reform der Erzieherausbildung. Allen Mitgliedsverbänden der AGJJ,
unter ihnen alle großen freien und öffentlichen Träger der Heimerziehung und
der Bundesregierung wurden die Ergebnisse der Arbeit dieses AGJJ-Auschusses
zugeleitet. In den AGJJ-Akten findet sich keine einzige Reaktion der Heimträger
und der zuständigen Ministerien des Bundes der Länder und der Landesjugendämter
auf diesen erschütternden Bericht. Die Forderungen wurden insgesamt ignoriert.
Auch vom Land Baden-Württemberg und den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden, die in
staatlichem Aftrag mehr als 70% der Heime betrieben , kam keine Reaktion.
1958 veröffentlichte die Kinder- und Jugendpsychiaterin Annemarie Dührssen ihre
aufsehenerregende empirische Studie Heimkinder und Pflegekinder in ihrer
Entwicklung. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung bestätigten die Erkenntnisse
des AGJJ-Ausschusses, waren allerdings bezogen auf die traumatisierenden Folgen
der Massenpflege in den Säuglings- und Kleinkinderheimen noch genauer und
weitreichender. Die Autorin kam zu folgendem Resumee: „Halten wir uns all die
schlimmen Dinge vor Augen, dann wird uns deutlich, dass nur ein großzügig
angelegtes Doppelprogramm wirklich Abhilfe schaffen kann, bei dem die
Vermehrung des Personalbestandes unbedingt mit sorgfältiger fachlicher
Ausbildung der notwendigen Hilfskräfte Hand in Hand geht. Dazu müssten
umfangreiche wirtschaftliche Mittel zur Verfügung gestellt werden, was aber
nicht geschehen wird. (...) Womit wir unbedingt aufhören müssen, das ist die
Beschwichtigung unseres Verantwortungsgefühls mit der Vorstellung, dass die
Schäden, die bei der bisherigen Form entstehen, nicht so schlimm seien, dass
sie sich auswachsen oder dass sie letzten Endes konstitutionsbedingt seien.“
Dührssen kritisierte, dass sich die Verantwortlichen für die Misere der
Säuglings- und Kleinkinderheime um ihr Versagen zu verschleiern „mit Hilfe von
nebelhaften Vorstellungen über wissenschaftliche Einsichten“ hinwegsetzten,
„die mindestens seit einem halben Jahrhundert zum Kenntnisstand der Medizin,
der Psychologie und der Reformpädagogik gehören“. Während meiner 1959
begonnenen sozialpädagogischen Ausbildung war dieses Buch für mich ein
Schlüsseltext, der wesentlich zu meiner Sensibilisierung für die unhaltbaren
Zustände in der Heimerziehung und zu meinem Entschluss, nach der Ausbildung
selbst in die Heimerziehung zu gehen und an der Veränderung dieser Verhältnisse
zu arbeiten, beigetragen hat. Leider traf die Voraussage von Annemarie Dührssen
zu: die notwendigen Mittel wurden nicht zur Verfügung gestellt; die
menschenunwürdige und das zukünftige Leben von Säuglingen und kleinen Kindern
zerstörende Praxis der Massenpflege wurde, in vollem Bewusstsein der Folgen,
nicht abgeschafft.
Auf dem zweiten Deutschen Jugendhilfetag im Jahr 1966 befasste sich eine
Arbeitsgruppe unter der Leitung des Münchener Sozialpädagogen Andreas Mehringer
mit dem „Erziehungsheim als Bildungsträger“. In ihrem Bericht beklagen die
Mitglieder der AG, dass die Heimerziehung bezogen auf Säuglinge und kleine
Kinder nach wie vor versage: „Der immer noch blühende Säuglingshospitalismus
ist eine der stärksten Wurzeln für Erfolgslosigkeit im Bildungsbemühen der
Heimerziehung“. Und es sollte noch einmal ein gutes Jahrzehnt dauern, bis Ende
der Siebzigerjahre diese Heime endlich abgeschafft wurden.
Bei Tausenden Kindern wurden die durch die Heimerziehung hergestellten
Hospitalismusschäden umgemünzt in Scheindiagnosen von erblich bedingtem
Schwachsinn, Lernbehinderungen, Schwererziehbarkeit etc. Die Kinder wurden
zwischen Heimen der Jugendhilfe, der Psychiatrie und Einrichtungen für behinderte
Kinder hin und her geschoben und viele von ihnen wurden als „bildungsunfähig“
etikettiert. Diese Stigmatisierung haftet ihnen ein ganzes Leben an. Diese
„Zusammenarbeit“ zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie und ihre schlimmen Folgen
für die von ihr betroffenen Kinder und Jugendlichen,
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einschließlich des Schicksals der in Heimen der sog. Behindertenhilfe
untergebrachten, wurde vom RTH nicht aufgeklärt. Für die ehemaligen Heimkinder,
die in Heimen der „Behindertenhilfe“ leben mussten sah sich das Gremium nicht
zuständig und zum Verhältnis von Psychiatrie und Jugendhilfe hätten ihm, so
heißt es im Abschlussbericht des RTH, keine Forschungsergebnisse zur Verfügung
gestanden. Diese Praxis war aber allen Fachkräften und Verantwortlichn der
Kinder- und Jugendhilfe jener Jahre bekannt.
Die Wege ins Heim
Kinder und Jugendliche wurden nicht erst hinter den Türen der Heime zu
entrechteten Opfern von demütigender Willkür und Gewalt. Solche Erfahrungen
mussten sie schon während der ganzen Prozedur machen, an deren Ende die
„Unterbringung“ stand. Darum ist die Frage, wie die Kinder und Jugendlichen in
die Heime kamen, von ebenso großer Bedeutung wie die Frage nach den
Lebensbedingungen und der Erziehungspraxis in den Heimen. Beides gehört
zusammen, wenn es um eine realistische Beurteilung der Heimerziehung der
Vierziger- bis Siebzigerjahre geht.
Auf mannigfachen Wegen wurde die Aufmerksamkeit des örtlichen Jugendamtes auf
Familien, Kinder und Jugendliche gerichtet. Die soziale Kontrolle bezogen auf
die Einhaltung der von der Mittelschicht geprägten normativen Erwartungen der
Gesellschaft, war in der Bundesrepublik bis in die Siebzigerjahre in Abwehr der
kulturellen Liberalisierungstendenzen in der Gesellschaft sehr dicht. Vor allem
in ländlichem und kleinstädtischem und stark religiös bestimmtem Milieu wie in
Bayern, war diese moralisch engherzige und bigotte Kontrolle unmittelbar
wirksam. Nachbarn, LehrerInnen, Kirchengemeinden, Lehrherren gaben Hinweise
oder es handelte sich um Kinder/Jugendliche aus im Gemeinwesen bekannten
sogenannten Problemfamilien.
Eine immer von Heimerziehung bedrohte große Gruppe waren unehelich geborene
Kinder, die besonders in religiös bestimmten Milieus von vornherein als „Kinder
der Sünde“ von „gefallenen Mädchen und Frauen“ diskriminiert wurden. Diese
Kinder standen als „Amtsmündel“ von Geburt an unter der Aufsicht des
Jugendamtes und des Vormundschaftsgerichtes. Dieser Automatismus wurde erst um
1970 durch eine Verbesserung der Rechtsstellung der „unehelichen Mutter“
gemildert. Sehr viele dieser Kinder wurden unmittelbar nach ihrer Geburt von
ihren Müttern getrennt und in Säuglings- und Kleinkinderheime gebracht, in
denen ihr Anteil immer zwischen 70% bis 80% schwankte. In den Heimen für
Schulkinder und Jugendliche stellten sie immer eine große Gruppe. Ihr Schicksal
in den zu 70% von den Kirchen bzw. ihren Orden und Wohlfahrtsverbänden
betriebenen Heimen, in denen als ErzieherInnen Nonnen, Ordensbrüder,
Diakonissen und Diakone arbeiteten, die zum großen Teil keine Fachausbildung
hatten, war besonders bedrückend, da sie zusätzlich noch unter der nie endenden
Diskriminierung als „Hurenkinder“ und „Kinder der Sünde“ leiden mussten und
ihre Mütter, von denen sie strikt ferngehalten wurden, von den religiösen
ErzieherInnen als „unkeusche Flittchen“ deren sündiges Erbe sie in sich trügen,
verteufelt wurden. Diese Kinder waren der Willkür der Jugendämter, die leider
durch die Vormundschaftsgerichte nicht gestoppt und kontrolliert wurden,
schutzlos ausgeliefert und wurden in die Heime regelrecht „entsorgt“, wo sie
ein besonderes Schattendasein führten. Sie hatten i.d.R. überhaupt keinen
Anschluss an eine Herkunftsfamilie, wussten oft nichts über ihre Herkunft, und
konnten sich auf Grund ihrer kompletten Heimsozialisation gegen die Willkür des
Heimpersonals noch weniger wehren als andere Kinder und Jugendliche. 1976
sorgte ein Untersuchungsbericht über „Vergessene Heimkinder“ für einen
bundesweit diskutierten Skandal. Im Jugendamt einer norddeutschen Provinzstadt
wurde bei einer Aktenrevision entdeckt, dass 131 Jugendliche bereits 10 bis 15
Jahre in Heimen lebten, ohne dass seit der Heimeinweisung jemals überprüft
worden war, ob die Gründe für die damalige Entscheidung noch bestanden. Bei
einigen Jugendlichen fanden
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sich in den Akten keine Hinweise darauf, in wie vielen und welchen Heimen sie
schon gewesen waren, bei anderen konnte nicht ermittelt werden seit wann sie im
Heim lebten und bei 39 Kindern fanden sich keine Angaben über die Gründe für
die Heimunterbringung. Bei 81 Jugendlichen fanden sich keine Entwicklungsberichte.
Von all diesen „Versäumnissen“ waren überproportional die Jugendlichen
betroffen, die als „Amtsmündel“ unter Amtsvormundschaft des Jugendamtes standen
und für die die Vormundschaftsgerichte die letzte Verantwortung trugen. In der
Folge dieses Skandals wurden in weiteren Jugendämtern der Republik ebenfalls
„Vergessene Heimkinder“ entdeckt, so dass diese Bezeichnung für einige Zeit zu
einem in der Jugendhilfe geläufigen Begriff wurde.
Das wichtigste juristische Instrument bei den Entscheidungen der Jugendämter
und Vormundschaftsgerichte über Heimeinweisungen von Kindern und Jugendlichen,
ja sogar von Säuglingen, war die Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe Verwahrlosung
und drohende Verwahrlosung, (und wenn es um die Anordnung von
Fürsorgeerziehung /FE ging oft in Verbindung mit Gefahr im Verzuge), die
in § 63 des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) bzw. ab 1962 in § 64 JWG
geregelt waren. Elisabeth Bamberger hatte die Tilgung der
Verwahrlosungsparagrafen aus dem RJWG gefordert, weil sie in der Praxis der
Jugendämter und Gerichte völlig unkontrolliert mit den subjektiven
Vorstellungen von Moral, Sitte und Anstand der ihn handhabenden Beamten und
Richter aufgeladen wurden, die ihrerseits weitgehend vom „gesunden
Volksempfinden“ und ihrer eigenen Mittelschichtsozialisation geprägt waren. In
einer Veröffentlichung des Evangelischen Reichserziehungsverbandes
(EREV) schrieb 1958 ein Psychologe: „Man versteht unter Verwahrlosung, ganz
allgemein gesagt, eine Summe von Verhaltensweisen eines Menschen, die aus dem
Rahmen des sozial Üblichen herausfallen. Verwahrloste Kinder und Jugendliche
zeigen in ihrem Verhalten auffällige Erscheinungen, die zwar in sich oft
widersprüchlich sein können und individuell unterschiedliche Stärkegrade haben
können, die aber doch so viel Gemeinsames aufweisen, dass der Sammelbegriff
‚Verwahrlosung’ durchaus gerechtfertigt erscheint (...). So sind Verwahrloste
zunächst einmal in jedem Fall unfähig, sich in die Gemeinschaft einzugliedern,
sich den sozialen Ordnungen und Verbindlichkeiten zu fügen und verantwortlich
zu handeln. Sie erscheinen ohne Pflichtbewusstsein, sie sind egozentrisch und
unberechenbar, launisch, undiszipliniert und Gemütsregungen sind, mindestens
nach außen hin, selten ersichtlich. Ihr Mangel an Halt, an Willen, an
Leistungsbereitschaft, an echter Kontaktfähigkeit kennzeichnet sie in ihrem
Verhalten zur Umwelt. Sie haben einen Hang zum Stehlen, Lügen, Betrügen und zu
sexuellen Fehlhaltungen; ihre egoistische Anspruchshaltung treibt sie zu
frechem, rohem, oft brutalem Benehmen. (...) Damit sie ihre materiellen Wünsche
befriedigen können und weil sie sittlichen Forderungen gegenüber taub sind,
verfallen sie leicht der Prostitution. Ihr Verhältnis zur Arbeit ist
gekennzeichnet durch einen Mangel an Ausdauer. Sie bummeln, schwänzen die
Schule, bleiben der Arbeit fern, wie es ihnen passt. Schon bei geringen
Belastungen, Anforderungen oder Reibungen in den zwischenmenschlichen
Beziehungen kommt es zu Weglaufen und nächtlichem Herumstreunen. Sie weichen
fortwährend der Wirklichkeit aus, die sie als Last und Einengung empfinden“.
Der Autor konfrontiert in diesem „Fernschulungsbrief“ seine LeserInnen –
ErzieherInnen in Heimen der Diakonie – um ihnen einen Spiegel vorzuhalten. Im
„Banne moralpädagogischer Auffassungen“, schreibt er, beurteilen Erzieher das
Verhalten ihrer Zöglinge von einem „moralisch-wertenden Standpunkt aus“ mit
Vokabeln wie „faul, arbeitsscheu, verschlagen, diebisch, lügnerisch,
heimtückisch, mannstoll, sittlich verkommen, frech, unverschämt, schmutzig,
gemeinschaftsstörend usw.“. Alle diese Vokabeln habe er „in zahlreichen
Beurteilungsberichten an die Behörden lesen“ können – ein ganzes Wörterbuch der
diskriminierenden, demütigenden und verächtlich machenden pädagogischen
Sprache, die bis weit in die Siebzigerjahre hinein in Einrichtungen und
Behörden der Jugendhilfe gesprochen wurde. Sie kennzeichnete einen hermetischen
Kreis von Ämtern, Gerichten, Trägern und Heimen , in den die Heimkinder
unentrinnbar eingeschlossen waren. Diese
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Sprache der Verunglimpfung, gesprochen von Personen mit öffentlichem Ansehen
„die es ja wissen mussten“, produzierte und verstetigte das öffentliche Bild
vom „verwahrlosten und schwererziehbaren Heimkind“, das den solchermaßen
Stigmatisierten ein Leben lang anhaftet und eine der Hauptursachen für das
jahrzehntelange Schweigen der ehemaligen Heimkinder war, das mit ihrer 2003
begonnenen Initiative für ihre Rehablitierung und Entschädigung, die auch zu
unserer heutigen Veranstaltung geführt hat, jetzt endlich gebrochen wird.
Zu den „Wegen ins Heim“ wäre noch viel zu sagen. Besonders zu den oft brutalen
und täuschenden Methoden der „Überführung“, „Überstellung“, „Zuführung“,
„Aufgreifung und Rückführung“ (nach erfolglosen Fluchten) – aber dazu reicht
die Zeit für diesen Vortrag nicht. Ich habe in der Zeitschrift für
Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ) Nr.3/ 2011 ausführlich darüber
berichtet. Heute will ich zu den „Wegen ins Heim“ Sonja Djurovic zitieren, die
als ehemaliges Heimkind am RTH mitgearbeitet hat. Sie berichtet aus eigener
Erfahrung: „1964, ich war gerade 14 Jahre, entschied ein Gericht in Bayern,
dass ich in einem geschlossenen 'Mädchenerzehungsheim' untergebracht werden
soll. Ich selbst war die Letzte, die darüber informiert wurde. Ich erfuhr erst avon,
als ich von zu Hause abgeholt wurde. Es war eine schlimme Situation für mich
(…). Ich wude mit der Heimeinweisung dafür bestraft, dass der Freund meiner
Mutter mich täglich sexuell nötigte, zu vergewaltigen versuchte und mich immer
wieder verprügelte (…). Wie in tausenden von Akten von Heimindern der damaligen
Zeit, stand auch in meiner Akte, dass eine 'sittliche Verwahrlosung' drohe und
ich nicht anpassungsfähig sei (…). Diese Ungerechtigkeit und große Missachtng
der Wahrheit war sehr schmerzlich für mich. Sie betraf nicht nur die Ignoranz
einem Kind gegenüber – es war so, als hätte ich keine Rechte, als sei ich
wertlos. Ich fühlte mich hilflos, machtlos und allein gelassen (…). Eines
morgens (…) kam eine Mitarbeiterin des für mich zuständigen Jugendamtes, um
mich abzuholen. (…). Ich wurde abgeholt und wußte nict einmal wohin die Reise
ging. Ich musste auf dem Rücksitz eines Autos sitzen. Der Fahrer und die
Jugendamtsmitarbeiterin saßen vorne im Wagen. Sie schwiegen. Es herrschte eine
eisige Kälte. Keine meiner Fragen wurde beantwortet. Nach einer schier endlos
langen Fahrt gelangten wir zum Ziel der Reise, einem geschlossenen Mädchenheim.
Ich wurde der Oberschwester des von Diakonissen geführten Heimes übergeben wie
ein Paket. Ihr wurden meine Unterlagen ausgehändigt. Dann fiel die Türe hinter
mir ins Schloss und ich war gefangen in einer 'Erziehungsanstalt'“. (Djurovic,
Sonja, Im Mädchenerziheungsheim – Erlebnisse, Erfahrungen und Folgen
geschlossener Unterbringung, in: Sozial Exra 2/2014).
Schlussbemerkung
Für Alles was ich hier vorgetragen habe werden die Belege in den Archiven der
Landesjugendämter, des zuständigen Ministeriums, der Jugendämter, der
kirchlichen Träger und im Staatsarchiv zu finden sein. Ganz bewusst habe ich
nur „politisch unverdächtige“ Quellen zitiert und darauf verzichtet, aus den
umfangreichen Materialien der von der Außerparlamentarischen Opposition
der späten Sechzigerjahre getragenen Heimkampagne zu berichten, der
nicht zuletzt das historische Verdienst zukommt, mit ihrer radikalen Kritik der
Heimerziehung wichtige Anstöße zu ihrer Reform und zur Veränderung des
Jugendhilferechts gegeben zu haben. Diese Reform war ein langer Weg. In dem
schließlich 1990/91 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendhilfegesetz
(KJHG / SGB VIII) wurden der „Verwahrlosungsbegriff“, die „Fürsorgeerziehung“
und die „Geschlossene Unterbringung“ ersatzlos gestrichen.. Allerdings sehe ich
mit Trauer und mit Beklemmung, dass, während wir hier in der Hochschule
Esslingen uns des Leids und des Unrechts vergewissern, dass den heute zwischen
fünfzig und achtzig Jahre alten Frauen und Männern in ihrer Kindheit und Jugend
in Heimen der Jugendhilfe angetan wurde, in diversen Bundesländern sukzessive
wieder freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe gegen
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Jugendliche angeordnet werden und die Geschlossene Unterbringung – jetzt als
„verbindliche Unterbringung“ oder als „pädagogisch-therapeutische
Intensivmaßnahme“ sprachlich kosmetisiert – wieder hoffähig wird. Auch das
unsägliche Wort „Verwahrlosung/verwahrlost“ wird von Fachkräften der Kinder-
und Jugendhilfe zunehmend wieder gesagt, so, als hätte es die einhellige Kritik
der Jugendhilfe der Siebziger- und Achtzigerjahre an dieser verwahrlosten und
verwahrlosenden Sprache nie gegeben. Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt
wird, wird sich die Kinder- und Jugndhilfe in zwanzig oder dreißig Jahren mit
dem Unrecht und Leid befassen müssen, was Kindern und Jugendlichen gegenwärtig
und zukünftig in ihren Einrichtungen zugefügt wird. Dazu ein Beispiel aus der
jüngsten Vergangenheit: In der „Hausordnung“ von Heimen des Trägers
„Haasenburg“, die im vergangenen Herbst vom Landesjugendamt Brandenburg, nach
anhaltender Kritik in den Medien und sehr langem Zögern, geschlossen wurden,
heißt es: >
„1. Ich höre auf alle Erzieher und Mitarbeiter der Haasenburg!
2. Dem Erzieher gegenüber antworte ich mit >JA< oder >NEIN< und
nenne ihn beim Namen!
3. Es herrscht angemessene Lautstärke in den Wohnräumen, der Schule, auf dem
Gelände und auf dem Pausenhof!
4. Ich rede nicht über das Weglaufen und mache es auch nicht!
5. Ich diskutiere nur in angemessenen Situationen, mit einem angemessenen Ziel
in angemessenem Tonfall!
6. Ich halte Distanz und habe keinen Körperkontakt!
7. Wenn die Jugendlichen wartend in der Reih stehen, ist der Mund geschlossen
und der Blick ist nach vorn gerichtet. Es wird ca. eine Armlänge Abstand zum
Vordermann gehalten!
8. Die Jugendlichen laufen erst dann los, wenn die Erzieher es sagen und nur so
weit wie es gesagt wird!
9. Die Jugendlichen laufen immer rechts neben dem Erzieher!
10. Während der Dienstzeit ist der Mund geschlossen. Nach Arbeitsmaterieal wird
angemessen gefragt! (…)“
„Ich habe die Regeln der Haasenburg gelesen und verstanden und ich bin bereit,
sie während meines Aufenthaltes einzuhalten. Verstöße gegen die Regeln der
Haasenburg haben Konsequenzen!“. (Zitiert in Sozial Extra 2/2014, S. 51.)
Alles was ich hier vorgetragen habe war, ich wiederhole es, zu jedem Zeitpunkt
der Nachkriegsgeschichte der Jugendhilfe den Leitungen der Einrichtungen, den
Verantwortlichen in Trägern und Behörden, den zuständigen PolitikerInnen
bekannt. Genauer: Es hätte ihnen bekannt sein können und müssen, wenn sie das
Schicksal der Heimkinder wirklich interessiert hätte, wie sie immer behaupteten.
Dass die Mittel für die immer geforderte tiefgreifende Reform der Heimerziehung
im boomenden Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Deutschland, nicht
bereitgestellt wurden, ist eine gesellschaftliche und historische Schuld, die
mit dem Fonds Heimerziehung nicht hinreichend anerkannt und in der Hauptsache –
der angemessenen Entschädigung der heute noch lebenden ehemaligen Heimkinder –
mit den Leistungen des Fonds Heimerziehung nicht einmal im Ansatz abgegolten
wird.
Freilich, die bescheidenen Leistungen dieses Fonds sollten offensiv in Anspruch
genommen werden und die MitarbeiterInnen der Anlauf- und Beratungsstellen in
den Ländern sollten die Frauen und Männer offensiv, kreativ und unbürokratisch
und mit voller Wertschätzung unterstützen, wenn sie zu ihnen kommen, um einen
Antrag zu stellen. Das wird nicht immer leicht sein, denn die berechtigte
Unzufriedenheit und der Ärger mit dem Ausmaß und den Regularien des Fonds wird
sich zuerst ihnen gegenüber artikulieren. Sie sollten die Kritik und
Unzufriedenheit aber nicht beschwichtigen und vertuschen, sondern sie
weiterleiten und veröffentlichen und sich selbst dessen bewusst sein, dass sie
mit den Mitteln des Fonds zwar
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akute Notsituationen ehemaliger Heimkinder lindern können und sollen, dass
damit aber deren berechtigte Forderungen nach einer umfassenden
Rehabilitierung, die ohne eine wirkliche Entschädigung nicht möglich
ist, nicht erfüllt werden.
ENDE DES ZITATS DIESES VORTRAGS.
QUELLE: Vereinswebseite des VEREINs EHEMALIGER HEIMKINDER E.V. @ http://www.veh-ev.eu/home/vehevinf/public_html/
Weitest mögliche Weiterverbreitung des Ganzen
erlaubt und ausdrücklich erwünscht.
.
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